„Wir dürfen keine Rückschritte riskieren“

Die Zahl der HIV-Neudiagnosen in Deutschland steigt wieder. Dabei gibt es mit der PrEP  eine hochwirksame Präventionsmaßnahme. Doch ihr Potential wird nicht ausgeschöpft. Der Welt-Aids-Tag erinnert in jedem Jahr daran: HIV ist nicht aus der Welt. Auch in Deutschland ist das Virus nicht besiegt. So registrierte das Robert-Koch-Institut (RKI) 2023 im Land etwa 3.300 Neudiagnosen. Eigentlich sollte man sollte mit einem stetigen Rückgang rechnen. Tatsächlich liegt der Wert über dem Vorjahr.

Die Zahlen sind zu hoch

„Die Zahlen sind zu hoch“, sagt Dr. Ivanka Krznaric, die in Berlin eine HIV-Schwerpunktpraxis mitbetreibt. „In einem Land, das so eine exzellente HIV-Versorgungstruktur hat, ist ein Anstieg der Neudiagnosen nicht hinnehmbar.“ Denn dass Therapie und Behandlung hier hervorragend funktionieren, ist unbestritten: Etwa 85 Prozent der knapp 100.000 Menschen, die in Deutschland mit HIV leben, werden über ein Netz von knapp 400 ambulanten Schwerpunktpraxen flächendeckend betreut. Fast niemand muss mehr wegen einer HIV-Infektion sterben. Durch die antiretrovirale Therapie (ART) kann das Virus kontrolliert werden. Die Therapie senkt die Viruslast sogar so stark, dass effektiv behandelte Menschen das Virus nicht mehr übertragen können. Letzteres ist zu einem wichtigen Baustein der Prävention geworden – ebenso wie die HIVPräexpositionsprophylaxe (PrEP), mit der sich Menschen durch eine tägliche Tablette vor HIV schützen können.

Das Potential der HIV-PrEP wird nicht ausgeschöpft

Die PrEP gilt als hochwirksam und ist seit 2019 Kassenleistung, mittlerweile wird sie in Deutschland von knapp 40.000 Menschen genutzt. Doch es könnten mehr sein. „Das Potential der PrEP ist längst nicht ausgeschöpft“, sagt der Berliner Infektiologe Dr. Heiko Karcher. „Viele Personengruppen erreicht diese Präventionsmethode noch nicht.“ Aktuell wird die PrEP mit großer Mehrheit von Männern genutzt, die Sex mit Männern haben. In dieser Gruppe sinkt die Zahl der HIV-Neudiagnosen seit Jahren kontinuierlich. Der Anstieg der gesamten Zahlen lässt sich laut RKI vor allem auf einen Zuwachs bei Infektionen nach heterosexuellen Kontakten und nach injizierendem Drogengebrauch zurückführen. „Menschen ohne Krankenversicherung, Sexworker, Migrant*innen, Transpersonen und Menschen, die Drogen intravenös gebrauchen, finden in Deutschland oft keinen Zugang zu regulären Versorgungsangeboten und damit auch nicht zur PrEP“, sagt Ivanka Krznaric.

Wichtige finanzielle Mittel gestrichen

Seit kurzem steht zudem fest, dass das Bundesministerium für Gesundheit das wichtige Evaluationsprojekt „PrEP-Surv“ des RKI ab 2025 nicht mehr finanzieren möchte. Ziel des nun auslaufenden Projekts war es, die Anwendung der PrEP zu überwachen und Lücken in der Versorgung rechtzeitig zu erkennen. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für HIV-Medizin  (dagnä) hat deshalb beschlossen, die Kosten für die Datenerhebung und den bürokratischen Aufwand in den Praxen in Zukunft selbst zu finanzieren. Damit kann zumindest ein Teil des Projekts weiter bestehen. „Wir dürfen jetzt keine Rückschritte riskieren“, sagt Ivanka Krznaric.

HIV-Versorgung in Deutschland auch zukünftig sichern

In der Bekämpfung von HIV sind in den vergangenen Jahren große Erfolge gefeiert worden. Doch das mache die Herausforderungen der Zukunft nicht kleiner. „Präventionsmethoden wie die PrEP müssen von der Politik gestärkt und ausgebaut werden – gleichzeitig dürfen wir nicht die Qualitätssicherung der HIV-Versorgung aus dem Blick verlieren.“ Denn unklar ist, was passiert, wenn in den kommenden Jahren immer mehr Schwerpunktpraxen schließen, weil die aus Altersgründen ausscheidenden Ärztinnen und Ärzte keine Nachfolger finden. Laut einer dagnä-Erhebung betrifft das etwa 50 Prozent der Praxen. Auch hier wünscht sich die dagnä Anreize aus der Politik, junge Mediziner für ambulante HIV-Medizin und Infektiologie zu begeistern. „Wir sind zu Recht stolz auf die HIV-Versorgungstrukturen in Deutschland, sagt Heiko Karcher. „Deswegen ist es so wichtig, sie zu schützen.“

 

Quelle: dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin e.V.)